WAS IRRT SO SPÄT NACHTS UMHER?

In der Jet Lag All Stars Radio Show fällt das Orchester aus dem gemachten Bett

»Bleib mir treu, ich komm’ zurück morgen früh.« So begann es auch dieses Mal: mit einem Versprechen – »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.« Anfangs schien es immer so weiterzugehen, als hätte unter den Trümmern des Faschismus die Konzertgesellschaft das Sagen. Oder war es nur ein Schauen, ein Streben, ein Behaupten, das lieber weit draussen gewesen wäre, weiter draussen noch als die Sterne, die am Firmament den Fischern den Weg in Bildern zeigen? »Wie der Lichterschein draussen auf dem Meer / Ruhelos und klein, was kann das sein / Was irrt so spät nachts umher?« Doch da waren die Amerikaner schon in Italien gelandet und die Sonne hielt kurz an. Das war 1943. Als das Licht wieder angegangen war, wurde aus dem dunklen nautischen Epos von Aufbruch und Heimkehr eine wirtschaftswunderliche Revue.

»Bella, bella, bella Marie«: Zwischenzeitlich hat sich meine Unruhe in geisterhafte Einsamkeit gehüllt. Vico Torriani sieht mich an, ich beginne zu zittern. »Und im Mondenschein, draussen auf dem Meer, / ziehen sie vorbei in jeder Nacht, / bis dann der Morgen erwacht. / Wie in alter Zeit, singen sie auch heut’, / klingen ihre Weisen draussen in der Einsamkeit.« Aber wer singt? Und wer hört zu? Wem sind die Arme gebunden? Wem wurden die Ohren womit verschlossen? Weisst Du, was da fährt? Letzte Offensive? Taktischer Rückzug? Aufbruch ohne Wiederkehr? Hören wir genauer hin.

Von der Rückseite des Mare Nostrums treiben mehr und mehr Boote unter die rote Sonne bei Capri. Im Konzert der Betroffenheiten werden die Instrumente gestimmt, alle gehen von Bord. Die einen räuspern sich oder husten und polieren dabei die Gläser des Opernguckers. Die anderen schlagen mit den Armen so lange auf das Wasser, bis es sich zurückzieht und sie am Ufer liegen bleiben. Viele nimmt die Strömung wieder mit. Ungezählte. Wer dirigiert den Datentausch der Drohnen, das Zusammenspiel der Satelliten, wer bündelt das amorphe Rauschen zu einem hochaufgelösten Bild?

Wir hören das Meer nicht. Wir hören kein einziges der ungezählten Boote. Wir hören nicht das Nach-Luft-Schnappen der Schwimmenden und nicht den Wind über dem absinkenden Treibgut. Wir hören nicht die Küstenwache, nicht den Funkverkehr der Menschenschmuggler. Wir hören ein Orchester, das an seine Grenzen geht, ein Orchester, das aus dem Konzert fallen kann, wie wir aus dem Bett fallen können, wenn wir schlafen. »Bella, bella, bella Marie.«

Die Krise unseres Wachbewusstseins wird als Sekundenschlaf eines Kontinents erfahrbar, der »in sich selbst« in Seenot geraten ist. Es zerbröselt der Gleichgewichtssinn: Hör von fern, wie es singt, von Küste zu Küste und Boot zu Boot. Hier singt ein Schrecken, der auch ein Hoffen ist auf etwas in uns, das treu bleibt, wenn wir schon vergessen haben und verloren sind.

Im blinkenden Licht der bleichen Sichel des Mondes draussen am Wasser vor einer Front aus Investorenarchitektur nähen Musiker und Publikum, Sirenen und Helden, Fischer und Fische aus ihren Instrumenten schlauchbootgrosse Quilts. Immer wieder werden in Fetzen zerrissene Stücke aus dem Wasser gezogen, die niemand kennt. Die Schlägel der Paukisten treiben knapp unter der Wasseroberfläche. Unruhe treibt sie an. Im aufgewühlten Dunkel ein beinahe regloses Herumstossen, Aneinanderschlagen, Auf- und Abtauchen, schweres Atmen, obdachloses Klappern der Mechaniken, ein Schwanken der Bässe. Aber manchmal in den Augenwinkeln ein Zittern, ein Tanzen im Lichterschein, ein Überleben, das sich geniesst. »Bella, bella, bella Marie.«

»Ein rettender Traum« – unter diesem Titel werde ich meine Aufzeichnungen über das intensive Treibgut zu Küstenlinien des Aufwachens zusammenfassen. Und vielleicht lassen sich so zwischen Wachen und Schlafen neue Ankerplätze der Aufmerksamkeit finden, akzidentielle, abgedriftete, rettende Orte.

Text & Bild: Alexander Schuh
Dieser Text erschien in der Februar-Ausgabe des Ö1 Magazins gehört.
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Nächste Jet Lag All Stars Radio Show: 27. Februar, 23.03 Uhr